Die Wiege des Agrotourismus ist Südtirol. Von hier aus hat sich das Erfolgsmodell fast über die ganze Welt ausgebreitet. Foto: Benjamin Pfitscher

Ein starkes Netzwerk für Agrotourismus

Was macht Agrotourismus zum weltumspannenden Erfolgsmodell? Und welche Herausforderungen gibt es in diesem Sektor? Diesen Fragen stellt sich Carla Barbieri als Präsidentin des Global Agrotourism Network (GAN). Ein Gespräch am Rande des zweiten Weltkongresses in Bozen.

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Politik Wirtschaft

Führende Wissenschaftlerinnen, Betreiber und Betreiberinnen von Agrotourismus haben sich 2023 zum Global Agrotourism Network (GAN) zusammengeschlossen, am 11. April fand die Gründung über Zoom statt, denn die Mitglieder sind über den gesamten Erdball verteilt. Die Idee zu diesem internationalen Netzwerk ist 2018 entstanden, als sich Expertinnen, Experten und UaB-Betreiber zum ersten Weltkongress für Urlaub auf dem Bauernhof in der Eurac Bozen zusammengefunden haben. Anlässlich der zweiten Ausgabe des Kongresses, der – wieder in der Eurac Bozen – von 16. bis 18. Mai dieses Jahres stattfand, übergab Gründungspräsidentin Lisa Chase von der University of Vermont (USA) den Vorsitz an ihre bisherige Stellvertreterin Carla Barbieri von der North Carolina State University. Für Südtirol sitzt Thomas Streifeneder von Eurac Research im Vorstand des Netzwerks. GAN hat sich zum Ziel gesetzt, den Agrotourismus weltweit zu verbessern. Wie das gelingen soll und wie das Netzwerk dabei vorgehen will, erklärt die neue Präsidentin im Interview mit dem „Südtiroler Landwirt“.

Südtiroler Landwirt: Frau Barbieri, Südtirol ist die Wiege des Agrotourismus. Warum glauben Sie, dass sich das Modell mittlerweile in alle Teile der Welt verbreitet hat und als vielversprechende zusätzliche Einkommensquelle für die Landwirtschaft gilt?
Carla Barbieri:
Der Agrotourismus entwickelt sich auf der ganzen Welt, weil er für die Landwirte, ihre Familien und die Gesellschaft viele Vorteile bringt. Er steigert nicht nur die Wertschöpfung am Hof, sondern belebt auch die umliegenden Gemeinden, indem er Arbeitsplätze für die Menschen vor Ort schafft und andere lokale Unternehmen unterstützt. Außerdem fördert der Agrotourismus den Erhalt des natürlichen, landwirtschaftlichen und kulturellen Erbes einer Region.

Die Vorgaben sind aber überall anders, der Agrotourismus entspechend vielfältig: Was sind – trotz aller Verschiedenheiten – die großen Gemeinsamkeiten dieses Zuerwebs?
Das Schöne am Agrotourismus ist in der Tat seine Vielfalt, die sich aus den verschiedenen Ressourcen der landwirtschaftlichen Betriebe ergibt, also beispielsweise aus der Art der angebauten Pflanzen oder der Tiere, die gehalten werden. Aber auch die lokalen Ressourcen spielen eine Rolle, also die Tradi­tio­nen, Gebräuche und die landwirtschaftlichen Gepflogenheiten. Es gibt aber einige wesentliche Gemeinsamkeiten, die alle Angebote verbindet: Und zwar stellt der Agrotourismus immer eine Verschmelzung von Tourismus und Landwirtschaft dar. Der Agrotourismus wird nämlich von den landwirtschaftlichen Betrieben als Möglichkeit gesehen, den Hof breiter aufzustellen. Deshalb steht die landwirtschaftliche Produktion im Mittelpunkt der Beherbergungs- und Bewirtungsangebote. Alle Zuerwerbsmöglichkeiten sind darin eingebettet und verleihen dem Ganzen Authentizität.

Wie verändert der Agrotourismus die Gesellschaft?
Die Veränderung geschieht in zweierlei Hinsicht. Zum einen bietet Agrotourismus bäuerlichen Familienbetrieben die Möglichkeit, in der Landwirtschaft zu bleiben und ihre Lebensqualität zu verbessern. Auf diese Weise werden lokale Lebensmittelsysteme gestärkt und alte landwirtschaftliche Erzeugnisse wie alte Getreidesorten sowie kulturelle Praktiken wie die Schafzucht erhalten. Zum anderen verändert Agrotourismus aber auch die Gäste: Denn in Kontakt mit den Bäuerinnen und Bauern lernen sie die Landwirtschaft kennen und werden darüber aufgeklärt: Dadurch wird ihnen bewusst, dass die Lebensmittelproduktion nicht einfach ist, und in der Folge bekommen sie mehr Respekt vor den Landwirtinnen und Landwirten und deren Arbeit.

Und wie verändert sich die Rolle der Frauen auf dem Bauernhof?
Frauen spielen eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung, Verwaltung und Innovation des Agrotourismus. Frauen waren schon immer in der Landwirtschaft tätig, Seite an Seite mit den Männern. Allerdings blieb ihre Beteiligung oft im Verborgenen. Der Agrotourismus ermöglicht es den Frauen, in der Landwirtschaft anerkannt zu werden. Außerdem stärkt der Agrotourismus die Frauen auf vielfältige Weise: In erster Linie natürlich in wirtschaftlicher Hinsicht, aber er unterstützt auch ihre Führungsrolle in der Gesellschaft.

Wie verändert der Agrotourismus die Landwirtschaft?
Der Agrotourismus hat einen großen Einfluss auf die Landwirtschaft. Er ermöglicht es, die Landwirtschaft auf traditionelle Weise fortzuführen, z. B. indem Schafzucht betrieben wird, traditionelle und lokale Besonderheiten erhalten bleiben, die an und für sich möglicherweise nicht rentabel wären. Der Agrotourismus ermöglicht also eine Landwirtschaft in kleinem Maßstab.

Sie sind seit der Gründung des Global Agrotourism Network mit dabei. Wie kam es zu diesem Netzwerk?
Während des ersten Weltkongresses für Agrotourismus hier in Bozen im Jahr 2018 rief Pandurang Taware, ein Bauer aus Indien, dazu auf, eine Möglichkeit zum Austausch von Ideen und bewährten Praktiken zwischen Agrotourismusanbietern zu entwickeln. Dann kam die Pandemie und die Bemühungen wurden zunächst auf Eis gelegt ...
Die Gespräche wurden 2022 beim Internationalen Workshop über Agrotourismus, der von der University of Vermont (USA) veranstaltet wurde, wieder aufgenommen. Am 11. April 2023 wurde das Netzwerk bei einem virtuellen Treffen ins Leben gerufen, an dem 271 Teilnehmerinnen und Teilnehmer über die Plattform Zoom teilnahmen.

Wie viele Mitglieder hat es und was genau ist das Ziel dieses Netzwerks?
Zurzeit haben wir über 700 Mitglieder aus etwa 70 Ländern, die in vielfältiger Weise im Agrotourismus tätig sind. Einige sind Landwirte, andere sind Fachleute, die in Nichtregierungsorganisationen und öffentlichen Einrichtungen arbeiten. Darunter sind auch einige Forscherinnen und Forscher. Das Global Agrotourism Network hat sich zum Ziel gesetzt, den Agrotourismus weltweit zu unterstützen und sich für ihn einzusetzen. Um das zu erreichen, bemühen wir uns, alle Akteure des Agrotourismus mit einzubeziehen. Wir legen großen Wert auf Expertise vor Ort und auf wissenschaftlich fundiertes Wissen, um die Entwicklung des Agrotourismus zu lenken. Wir bemühen uns, Erfahrungen und Fachwissen aus der ganzen Welt zu sammeln und zusammenzutragen und legen besonderen Wert auf den Wissens­austausch zwischen den Mitgliedern des Netzwerks.

Sie sind jetzt Präsidentin des Netzwerks und beschäftigen sich seit Langem mit dem Agrotourismus. Welche wichtigen Themen und Herausforderungen wird das Netzwerk in naher Zukunft diskutieren und angehen müssen?
Ich sehe zwei große Herausforderungen, die es anzugehen gilt. Die erste besteht darin, dass es bei der Entwicklung des Agrotourismus weltweit große Unterschiede gibt. Einerseits kämpfen Landwirte, die in ihren Regionen Pioniere des Agrotourismus sind, mit dem allgemeinen Mangel an Verständnis dafür, was Agrotourismus bedeutet. Sie brauchen Unterstützung, um ihre Unternehmungen voranzutreiben. Ein anderes großes Thema, das mich mehr beunruhigt, ist das Aufkommen von sogenannten „landwirtschaftlichen Themenparks“, die sich fälschlicherweise als Agrotourismus bezeichnen. Dabei handelt es sich in der Regel um Investoren, die eine landwirtschaftliche Umgebung inszenieren, um lediglich Freizeitaktivitäten anzubieten. Das kann unseren Bäuerinnen und Bauern im Agrotourismus schaden.

Wo sehen Sie den Agrotourismus in zehn Jahren? Und wo wird das Netzwerk stehen?
In den letzten 20 Jahren (und sogar noch länger) habe ich gesehen, dass der Agrotourismus als Strategie zur Förderung der ländlichen Entwicklung und zur Unterstützung kleiner Familienbetriebe an Bedeutung gewonnen hat. Ich glaube, dass sich dieser Trend und dieses Wachstum fortsetzen werden, wodurch sich die Kluft zwischen Lebensmittelkonsumenten und -erzeugern schließen wird. Um die Vorteile des Agrotourismus nutzen zu können, müssen wir jedoch sicherstellen, dass die Werte des Agrotourismus (z. B. dass die Landwirtschaft im Mittelpunkt steht) anerkannt und respektiert werden. Ich glaube, dass dies einer der größten Beiträge des Global Agrotourism Network sein wird. Ich kann Ihnen nicht sagen, wo GAN in Zukunft stehen wird ... Ich hoffe aber, dass es unsere Agrotourismus-Gemeinschaft stärker unterstützen wird.

Carla Barbieri: „Agrotourismus ermöglicht eine Landwirtschaft in kleinem Maßstab.“

Renate Anna Rubner

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