Vorne traditionelle Tierhaltung und Streuobstwiese, hinten innovative Wind- und Solarkraftanlagen: Das ist Wilpoldsried im Allgäu.

Vom Energiedorf profitieren alle

Wilpoldsried im Allgäu ist das Paradebeispiel eines Energiedorfes. Eine Lehrfahrt führte eine Reisegruppe des Südtiroler Bauernbundes dorthin und in zwei weitere Gemeinden mit Vorzeigecharakter. Sie alle könnten auch Südtirol als Vorbild dienen.

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Innovationen

Es ist vier Uhr früh. Auf dem Parkplatz vor dem Bauernbund-Hauptsitz in Bozen ist es noch dunkel. Ein Kleinbus wartet aber bereits: An Bord eine Gruppe des Südtiroler Bauernbundes mit 15 Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Ziel der Lehrfahrt ist die Region Allgäu-Bodensee, wo sogenannte „Energie­dörfer“ Strom und Wärme erzeugen – teilweise weit über den Eigenbedarf hinaus. Drei dieser Vorzeigegemeinden stehen auf dem Besuchsprogramm der Bauernbund-Lehrfahrt: das älteste Energiedorf Baden-Württembergs Mauenheim, wo ein Landwirt mit seiner Biogasanlage die Energiewende mitgestaltet, sowie Randegg, wo die lokale Getränkefirma „Ottilienquelle“ das Projekt „Energiedorf“ antreibt. Der unangefochtene Star unter den Energiedörfern ist jedoch Wilpoldsried. 

Der Europameister unter den ­Energiedörfern
Wilpoldsried wurde mit dem „European Energy Award“ in Gold ausgezeichnet und erzielte dabei die höchste Punktzahl in Europa. Die Gemeinde im oberen Allgäu mit 2.500 Einwohnern, 2.000 Hektar Landwirtschaft und 500 Hektar Wald hat seit den 1990er-Jahren rund 70 Millionen Euro in Energieprojekte investiert. Heute generiert sie jährlich eine Wertschöpfung von rund acht Millionen Euro. Photovoltaik-, Biogas- und Windkraftanlagen bilden das energetische Fundament in Wilpoldsried. Gebaut wird bevorzugt mit heimischem Holz. Die Fernwärme stammt aus Gülle, Mist und Holzresten. Wilpoldsried ist ein attraktiver Standort geworden – für Familien und Unternehmen gleichermaßen: Der Batteriehersteller „Sonnen“ mit 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern siedelte sich hier bereits im Jahr 2010 an. Mittlerweile besuchen jährlich rund 100 Delegationen aus aller Welt die Gemeinde. 

Ein Bildungszentrum als Herzstück
Am Nachmittag trifft die Delegation aus Südtirol im neuen ökologischen Bildungszentrum Wilpoldsrieds ein. Es dient als Veranstaltungszentrum, Café und beherbergt zudem Gästezimmer. Vizebürgermeister Günter Mögele, seit 1990 im Gemeinderat, erzählt über die Anfänge als Energiedorf. Wilpoldsried war damals strukturschwach und von Abwanderung bedroht. 1998 zog sich der Gemeinderat zu einer Klausur zurück. Es wurde eine Wunschliste erstellt: Nahversorgung, Ärzte, Apotheke, Altenheim – und Energieautarkie. Unter dem Leitbild WIR, was für „Wilpoldsried Innovativ Richtungsweisend“ steht, wurde ein Fahrplan mit drei Schwerpunkten entworfen: 1. Energieeinsparung und -erzeugung; 2. Holz als Bau- und Brennstoff;
3. Schutz der Wasserressourcen. Bei der Einführung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes 2000 war Wilpoldsried bereit zu investieren. Heute gibt es allein 15 Photovoltaik-Bürgeranlagen auf öffentlichen Gebäuden – vom Feuerwehrhaus bis zum Kindergarten – mit 700 Kilowatt sowie 350 private Anlagen mit über sechs Megawatt Leistung. Der Ertrag der Photovoltaik-Anlage auf der Sporthalle finanziert deren Betrieb.

Windkraft in Bürgerhand
Windkraft spielt in Südtirol kaum eine Rolle – denken sich die Teilnehmer der Südtiroler Delegation. Doch Wilpoldsried hat mit inzwischen elf Windrädern und 18 ­Megawatt Leistung ein beeindruckendes Beispiel geschaffen. Die Windräder stehen entlang eines Waldgürtels. Bayern war bei Windkraft immer sehr restriktiv. Doch lokale Beteiligung verhinderte Einsprüche und half, gesetzliche Hürden zu überwinden. Über 400 Bürgerinnen und Bürger beteiligen sich finanziell. Die Beteiligung wurde auf 5.000 Euro pro Person begrenzt, damit möglichst viele profitieren konnten. Ein Landwirt, dessen Haus direkt am Windrad steht, sagt: „Wenn der Schattenwurf kommt, dreh ich mich einfach für zehn Minuten auf dem Sofa um, dann stört es mich nicht.“ Heute produzieren die Windräder das Siebenfache des Stromverbrauchs der Gemeinde. Neue, effizientere Anlagen sind geplant. Dabei ist der Flächenverbrauch gegenüber Photovoltaik-Anlagen um ein Vielfaches geringer.

Einnahmen für alle
Die Gemeinde erhält 0,2 Cent pro erzeugter Kilowattstunde durch Windkraft – das entspricht jährlich bald über 100.000 Euro. Zusammen mit Steuereinnahmen und Photovoltaik-Erträgen fließen jährlich rund 800.000 Euro in die Gemeindekassen. Davon profitieren auch Vereine, die jährlich rund 45.000 Euro erhalten. Wilpoldsried investiert kontinuierlich in Energieeffizienz: Plusenergiehäuser, Energiewochen im Kindergarten, Austauschprogramme für alte Heizungspumpen und kostenlose Energie­beratung. Sozialer Wohnbau wird für 5,70 Euro pro Quadratmeter vermietet. Die alte Pflanzenkläranlage wird renaturiert und als Moor zur Wärmegewinnung genutzt.

Blick in die Zukunft
Zukunftspläne gibt es viele: Eine CO2-neutrale Biolachszucht ist im Entstehen. Der Klärschlamm soll zur Strom- und Wärme­erzeugung genutzt werden. Ältere Windräder sollen Wasserstoff produzieren, ein Rechenzentrum wird angedacht. Agri-Photovoltaik ist in Planung – mit verbindlicher landwirtschaftlicher Nutzung der Flächen. Betreiben sollen diese Wilpoldsrieder Bürger. Auch hier fließen 0,2 Cent pro Kilowattstunde an die Gemeinde.

Was bedeutet das für Südtirol?
Die Südtiroler Delegation zeigte sich tief beeindruckt. Besonders die Windkraft in Bürgerhand regte zum Nachdenken an. Vielleicht war diese Reise mehr als nur eine Lehrfahrt. Vielleicht war sie der Startschuss für neue Energiedörfer in Südtirol.  

Pascal Vullo

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