Stef holt gemeinsam mit Adam die Eier aus dem Hühnerstall. Das ist eine der Aufgaben, die er jeden Tag zu machen hat.

„Tun muss man es halt“

Niederländischen Jugendlichen in schwierigen Lebenssituationen zurück in die Gesellschaft zu helfen, ist das Anliegen von Adelheid Bonacker. Mit ihrem Projekt Edelweiss und Bauernhöfen wie dem Schallerhof in Tschöfs bei Sterzing kann das gelingen. Wie? Mit viel Geduld und konsequenter Strenge.

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Leben

„84 Stunden ackern am Tag, muss ich“, Stef grinst breit unter seinem Käppi heraus und setzt (in Englisch) noch eins drauf: „Ich kriege nichts zum Essen und ausruhen darf ich auch nie.“ Alle lachen. Philipp Frötscher zwinkert ihm zu. Man merkt sofort, dass er den Jungen gern mag. Philipps Frau Veronika hat Kaffee gemacht und serviert Kekse, der zweijährige Adam turnt zwischen Papi und Stef hin und her. Der Große – Moritz – ist im Kindergarten. Es ist ein sonniger Freitagmorgen Anfang Juni. Das Heu am Schallerhof in Tschöfs bei Sterzing liegt gemäht auf der Wiese. Einmal muss es noch gewendet werden, um gut zu trocknen. Am Wochenende wird es eingebracht.

Das Projekt Edelweiss
Stef ist 17, kommt aus den Niederlanden und wohnt seit drei Monaten am Schallerhof. Philipp und Veronika haben ihn über das Projekt Edelweiss bei sich aufgenommen, für sechs Monate sicher, vielleicht werden es auch ein paar mehr, das hängt auch davon ab, wie sich Stef in nächster Zeit weiterentwickelt.
Präsidentin des Projekts Edelweiss ist Adelheid (Heidi) Bonacker. Sie kommt ursprünglich aus Meran, lebt aber seit 17 Jahren in den Niederlanden und hat dort Familie. Vor rund sechs Jahren hat sie das Edelweiss-Projekt gegründet, um niederländischen Jugendlichen in schwierigen Lebenssituationen zurück in die Gesellschaft, zurück ins Leben zu helfen. „Meine Mutter stammt aus Antholz-Mittertal“, erzählt Heidi, deshalb habe sie die Sommer immer dort am Hof der  Großeltern verbracht. Nicht besonders gerne, denn lieber wäre sie bei ihren Freundinnen zu Hause in Meran geblieben.
Am Hof der Großeltern gab es immer viel zu tun, da hieß es anpacken. „Heute bin ich sehr dankbar für diese Zeit, denn sie hat mich gelehrt, wie wichtig die Arbeit der Bauern ist. Und wie ,gesund‘ es ist, viel draußen zu sein, eine sinnvolle Beschäftigung und einen gut strukturierten Tag zu haben.“
Deshalb sei ihr diese Zeit in den Sinn gekommen, als sie mitbekam, dass es nicht selbstverständlich ist, dass Kinder und Jugendliche in einer guten Umgebung aufwachsen dürfen und sie manchmal auf die schiefe Bahn geraten. Das hat sie zur Gründung des Vereins bewogen, der nun eng mit der niederländischen Regierung und anderen Organisationen in den Niederlanden zusammenarbeitet, um diesen Jugendlichen zu helfen. Deshalb hat sie eine Annonce im „Südtiroler Landwirt“ geschaltet, um heimische Bauernfamilien zu finden, die dazu bereit sind, einen Jugendlichen bei sich aufzunehmen.

Hof und Bauernfamilie auf ihre Eignung hin prüfen
Philipp Frötscher und Veronika Kerschbaumer haben sich auf diese Anzeige hin bei Heidi gemeldet. Sie hat sie daraufhin auf ihrem Hof besucht, mit den beiden ein langes Gespräch geführt und die Struktur auf ihre Eignung hin geprüft: „Die Jugendlichen sollten am Hof ein eingerichtetes eigenes Zimmer mit Bad haben, damit sie sich auch zurückziehen können“, erklärt sie. Zudem sei es ideal, wenn der Hof etwas abseits liegt, denn die jungen Leute sollten so wenig wie möglich Ablenkung erfahren: Handy und andere elektronische Kommunikationsmittel sind ihnen nicht erlaubt, Alkohol- und Drogenkonsum absolut verboten. Und es müsse gewährleistet sein, dass eine bäuerliche Familie vor Ort ist, dass die Jugendlichen immer unter Aufsicht stehen und nicht allein gelassen werden. All das trifft auf den Schallerhof zu: Philipp und Veronika haben den Hof vor sechs Jahren gekauft und haben ihn nun sachte, aber gründlich renoviert. Sehr viel hat Philipp in Eigenregie gemacht, er ist gelernter Tischler und sehr geschickt darin. Es macht ihm auch Freude, in Kleinarbeit und mit viel Feingefühl die Besonderheiten des historischen Hofes herauszuarbeiten und für sich und seine Familie ein gemütliches Nest zu bauen. Ein Nest, das nun auch für Stef Zufluchtsort geworden ist.
Die junge Familie wohnt im Parterre, im Stockwerk darüber gibt es drei Zimmer, in einem davon lebt nun Stef. Und im Dachboden hat Philipp zwei Ferienwohnungen für Urlaub auf dem Bauernhof eingerichtet. Eigentlich sind sie noch nicht fertig, im Herbst sollen die ersten Gäste einziehen.

Viele kleine Arbeiten rund um Haus und Hof
Bei kleinen Arbeiten rund um Haus und Hof kann Stef den jungen Bauersleuten gut zur Hand gehen. „Ich finde es sehr angenehm, dass ich immer jemanden dabeihabe“, sagt Philipp. Es gebe so viele Beschäftigungen am Hof, bei denen man Jugendliche gut mit einbinden könne, meint auch Veronika. Zudem seien beide gerade sehr viel am Hof: Veronika hat wegen der Kinder ihren Job in der Kommunikation vorerst aufgegeben, Philipp seinen auf 25 Prozent reduziert. „Ich bin im Betrieb für die Ausarbeitung der Angebote zuständig. Mein Chef kommt mir sehr entgegen, es ist ihm wichtig, dass die Arbeit getan ist. Wann ich sie mache, ist ihm egal“, erzählt Philipp. Denn zwischen Renovierung, Hof und Wald sei immer viel zu tun, die Büroarbeit macht er oft noch spätabends.

Kreislaufwirtschaft am Hof
Die Landwirtschaft am Schallerhof ist klein: Die Familie hält ein paar Ziegen und Schafe, Legehennen und eine Fleischrasse. Vorwiegend um sich selber zu versorgen, mit Fleisch, Eiern, Milch, Käse und Joghurt. Später soll auch noch ein Gemüsegarten dazukommen. Zurzeit arbeitet Philipp auch im Wald, dort schneidet er beispielsweise Wege für die Interessentschaft frei. Die Reiser, die dadurch anfallen, bringt er den Ziegen: Die knabbern Nadeln und Rinde ab, das lieben sie. Obendrein sei das sehr gesund für die Tiere. Was übrig bleibt, verfeuert Philipp in einem speziellen Ofen. Die Kohle kommt dann wieder als Einstreu in den Stall, danach wird alles kompostiert und wird nach etwa einem Jahr Reife auf die Felder gebracht. Philipp schwört auf die Kreislaufwirtschaft, dadurch bekommt für ihn alles Sinn.

Zeit und gemeinsame Gespräche
Und eine sinnvolle Nebenbeschäftigung für Stef gibt es dadurch auch: Am Abend macht Philipp oft das Feuer im Ofen, sie unterhalten sich, manchmal braten sie Speck dabei. Stef liebt Speck! „Von den Trägern des Projekts wurde uns empfohlen, so viel wie möglich Zeit mit den Jugendlichen zu verbringen, mit ihnen zu reden und sie erzählen zu lassen“, erklärt Philipp, das abendliche Feuerritual sei ideal dafür. Und Stef redet gerne. Bereits am zweiten Tag habe er von seinem Leben in den Niederlanden zu erzählen begonnen: von seinem problematischen Verhältnis zur Mutter, von den falschen Freunden, vom Schuleschwänzen, von Drogen und Gewalt, seinen Eskapaden. Bis man auf ihn aufmerksam wurde und ihn vor die Wahl stellte: Drei Optionen standen ihm frei, nichts tun war keine davon. Nach vielen Gesprächen entschied er sich schließlich für das Edelweiss-Projekt: Er wollte weg aus seinem Umfeld und nicht gemeinsam mit anderen Jugendlichen therapiert werden. Trotzdem war die erste Zeit schwierig, vor allem für ihn: Die fremde Gegend, neue Menschen, eine unbekannte Sprache, keine
Ablenkung und kaum Kontakte nach außen – nur über Briefe kann er mit seiner Familie in den Niederlanden kommunizieren. „Anfangs war es auch hart für uns“, erzählen Philipp und Veronika. Denn Stef hatte verlernt, dass man nachts schläft und tagsüber wach ist, dass man zu bestimmten Zeiten isst und dass es Mitmenschen gibt, die etwas einfordern. „Nach etwa zwei Wochen wurde es dann deutlich besser, er hat den Kopf freibekommen, seitdem ist Stef eine Hilfe“, sagt Philipp, „aber man muss dahinterbleiben.“

Klar definierte Aufgaben und konsequente Führung

Nun stehen morgens alle gemeinsam auf, die Mahlzeiten nehmen einen festen Platz im Leben der Familie ein. Dazwischen wird gearbeitet, Stef hat klar definierte Aufgaben: Zum Beispiel soll er die Eier aus dem Hennenstall holen, das macht er gerne. Weniger toll findet er, wenn er dort mit der Schaufel die Kacke wegräumen soll. Das sind tägliche Arbeiten, von denen er weiß, dass sie zu machen sind. Genauso wie die Käsepflege, das Aufräumen seines Zimmers, das Sortieren seiner Wäsche oder das Abräumen seines Tellers nach dem Essen. „Immer muss man ihm sagen, was er zu tun hat, das erfordert viel Geduld“, meint Philipp. Anfangs müsse man die Jugendlichen erst kennenlernen, um zu verstehen, was man ihnen zutrauen könne und was nicht. Selbstständiges Arbeiten gehöre jedenfalls nicht dazu, meint Veronika. Aber darum gehe es auch gar nicht.
„Stef braucht eine ganz klare Führung, ihm muss deutlich gesagt werden, was zu tun ist und was nicht“, erzählt Philipp weiter. Da müsse man auch Strenge walten lassen, mit Mitleid und Schonung komme man nicht weiter. „Das Gute bei Stef ist, dass er alles sehr gut aufnimmt, Kritik auch mit Humor hinnehmen kann und sich nicht beleidigt zurückzieht“, das rechnet ihm Philipp hoch an, denn so sei das Zusammenleben viel leichter. Trotzdem fragen ihn viele, wieso er sich das antue, warum er sich mit seiner Familie dazu entschieden habe, auffällige Jugendliche aufzunehmen. Philipp zuckt mit den Achseln: „Ich finde, diese jungen Menschen müssen eine zweite Chance bekommen, sie haben es sich verdient“, ist er überzeugt. Es bringe nichts, das ständig zu hinterfragen, „tun muss man es einfach“, sagt er mit Nachdruck.

Pläne für die Zeit danach
Stef ist übrigens nicht der Erste, der über das Projekt Edelweiss auf den Schallerhof gekommen ist. Bereits vorher war ein Junge am Hof, auch er habe erstaunliche Fortschritte gemacht und sei nun in den Niederlanden zurück. Stef hat sich auch sehr gut eingelebt und in den letzten drei Monaten sehr zum Positiven entwickelt. Für danach hat er bereits Pläne, noch nichts Konkretes, aber er denkt (laut) darüber nach. Zwar ist er sicher noch mindestens drei Monate am Schallerhof, aber wenn er zurück in den Niederlanden ist, will er den Scooter-Führerschein machen und eine Lehre beginnen. Die Schulbank zu drücken, ist nicht so seines. Aber der Beruf des Kochs würde ihm gefallen. „Er kocht und backt gerne und gut“, bestätigt ihm Veronika, das könnte eine Perspektive für ihn sein. Ob er zu seiner Familie zurückkehren wird oder in einer Struktur anderswo unterkommt, ist noch offen. Tatsache aber ist, dass über das Projekt nicht nur der Jugendliche, sondern auch seine Familie in den Niederlanden von fachkundigen Personen begleitet und therapiert wird.

Unterstützung auch für die Gastfamilie
Und die Gastgeberfamilie erhält natürlich auch professionelle Unterstützung: Einmal wöchentlich kommt die Pädagogin Arianna auf den Hof. Sie bringt Stef sein Taschengeld von zehn Euro und führt Gespräche mit ihm und den Bauersleuten. Mit dem Geld kauft sich Stef Zigaretten, Philipp möchte zwar, dass er auch mit dem Rauchen aufhört, aber es ist alles, was ihm von seinem alten Leben geblieben ist. Es ist seine Entscheidung.
Philipp und Veronika bekommen monatlich einen Beitrag zur Kostendeckung für die Mitarbeit am Projekt Edelweiss. „Im Vordergrund soll für die Bauersleute nicht der Verdienst stehen, vielmehr soll ihr Ansatz ein sozialer sein. Sie sollen darin einen Auftrag sehen“, unterstreicht Adelheid ­Bonacker. Derzeit sind es sechs Höfe südtirolweit, die an dem Projekt Edelweiss teilnehmen, sie wünscht sich noch mehr davon. Aber wieso sollte man sich das antun? Philipp meint: „Toll daran ist zu sehen, welche Riesenfortschritte die Jugendlichen in den ersten paar Wochen machen. Heute steht Stef mit uns auf und freut sich schon aufs Essen. Für unsere Buben ist er wie ein großer Bruder. Und abends geht er müde und zufrieden ins Bett. Inzwischen gehört er richtig zur Familie!“

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