Ein Buch als Erinnerungsstück
Thomas Ortler führt unter anderem das Restaurant Flurin in Glurns. Bodenständige, aber kreativ raffinierte Gerichte aus regionalen Produkten sind sein Markenzeichen. In seinem Buch „Nanas Küche“ hat er Geschichten und Rezepte von sechs Großmüttern zusammengetragen. Auch seiner eigenen.
Über Umwege ist Thomas Ortler zum Kochen gekommen. Kulinarik hat sein Leben aber von Kindesbeinen an geprägt. Vor allem seine Großmutter „Touna“ hat Zeit ihres Lebens Freude am Kochen gehabt und mit ihrem Essen Liebe und Geborgenheit verbreitet – bei ihren Kindern ebenso wie bei den Enkeln. Ihre „Wohlfühlgerichte“ und die der anderen fünf Omas hat der Küchenchef in seinem Buch „Nanas Küche“ gesammelt. Im Interview mit dem „Südtiroler Landwirt“ erzählt Thomas Ortler, was ihm das Buch bedeutet, was für ihn Regionalität ist und was seine Küchenphilosophie mit Musik zu tun hat.
Südtiroler Landwirt: Herr Ortler, Sie sind einer der renommiertesten Küchenchefs Südtirols und Botschafter des Qualitätssiegels „Roter Hahn“. Was bedeutet „Roter Hahn“ für Sie?
Thomas Ortler: Das Siegel „Roter Hahn“ ist in erster Linie eine Herkunftsgarantie, aber auch eine Qualitätsgarantie für mich. Wir sind in unserer Küche gewillt und ambitioniert, Regionales und Saisonales auf die Teller zu bringen. Die Produkte von „Roter Hahn“ sind deshalb genau das, was wir brauchen: nämlich authentische, hochwertige Produkte von heimischen Bauernhöfen.
In Ihrem Restaurant Flurin in Glurns zelebrieren Sie heimische, bodenständige und trotzdem kreative, feine Küche. Welche Philosophie steckt dahinter?
Stimmt, ich koche bodenständig, aber mit historischer Perspektive: Die Küche Südtirols hat sich nämlich im Laufe des letzten Jahrhunderts doch stark verändert: Früher wurde auf den Höfen noch gekocht, um möglichst viele satt zu machen und gleichzeitig alles zu verwerten, was der Hof hergab. Nach dem Ersten Weltkrieg kamen bei uns dann italienische und mediterrane Einflüsse hinzu. Und mit der allgemeinen Globalisierung vor rund 30 Jahren setzte ein weiterer Entwicklungssprung ein – seither haben zahlreiche, teils auch exotische Einflüsse Einzug in unsere Art zu kochen und zu essen gehalten. Meine Philosophie in der Küche ist deshalb eine Regionalität, die durch Kreativität spannend wird. Wir verwenden zum Beispiel Schaffleisch, weil es im Vinschgau Tradition hat. Allerdings wird das traditionelle Schöpserne irgendwann ganz schön langweilig, auch wenn es super schmeckt. Deshalb versuche ich Lammfleisch mit orientalischen Geschmacksnoten neu zu interpretieren, aber mit heimischen Zutaten. So wird das Ganze wieder spannend. Ich vergleiche das Kochen oft mit der Musik: Da gibt es ja auch von Klassik über Jazz bis Rock viele verschiedene Richtungen, die auch, aber nicht nur, durch die Wahl der Instrumente geprägt werden. So ähnlich ist es bei uns in der Küche: Die ist weltoffen, aber trotzdem verwurzelt.
Sie haben zunächst studiert und dann erst zum Herd gefunden. Wie kam es dazu? Und hat Ihr Studium Ihre Art zu kochen bzw. Ihre Philosophie geprägt?
Ja, ich habe zunächst den Bachelor in Geschichte in Wien gemacht und dann einen Master in Wirtschafts- und Sozialgeschichte in Berlin. Nebenbei habe ich aber immer gerne gekocht. Um mir neben dem Studium ein bisschen Geld zu verdienen, habe ich in Küchen gearbeitet, anfangs als Abwäscher und später auch als Küchenhilfe. In Berlin bekam ich dann – ganz zufällig – einen Job in einem Sternelokal. Das war sehr spannend für mich und irgendwann wusste ich, dass ich das Gelernte gerne vertiefen und in diesem Bereich weitermachen möchte. Und, ja, das Studium hatte und hat Einfluss auf meine Küchenphilosophie. Zum einen eben, indem ich diese historische Perspektive mit einbringe. Und zum anderen, weil ich auf viele Dinge aus einer anderen Warte schaue, als wenn ich eine klassische Lehre gemacht hätte. Ich hinterfrage deshalb wohl auch mehr, wieso man etwas so macht und nicht anders. Und vor allem ermöglicht mir diese Sicht von „außen“, dass ich manche Dinge einfach anders mache.
Sie haben kürzlich ein neues Kochbuch herausgebracht. Darin steht geschrieben: „Im Fokus seiner kreativen Küche stehen die Themen Regionalität, Nachhaltigkeit und Konsumethik“. Was meinen Sie konkret mit diesen drei Schlagworten? Beginnen wir mit der Regionalität: Meinen Sie damit den Vinschgau, Südtirol oder ist regional noch weiter gefasst?
Das ist von Produkt zu Produkt verschieden und ganz klar: Es geht dabei für mich nicht um politische Grenzen. Bei uns hier in Glurns ist die Schweiz teils näher als viele Orte in Südtirol. Aber prinzipiell versuchen wir, mit Vinschger Produkten zu arbeiten, vor allem beim Fleisch. Gemüse, Eier, Milch und Milchprodukte kaufen wir von Bauern in der Nähe, da ist es (meistens) recht einfach. Im Winter wird der Radius natürlich größer: Da kommt das Gemüse eher aus dem Bozner Raum oder aus der Poebene. Bei Produkten wie beispielsweise Salz muss man sich mehr Gedanken machen: Da versuchen wir, es nicht gerade vom anderen Ende der Welt herzuholen, sondern von der nächstgelegenen Küste.
Zu Schlagwort zwei: Ist Nachhaltigkeit vor allem ökologisch gemeint?
Auf jeden Fall versuchen wir den Anbau und den Konsum zu fördern, der unseren Planeten nicht schadet. Aber Nachhaltigkeit leben wir auch im Betriebsmanagement: Wir sind ein junges Team, das Durchschnittsalter liegt bei 22 Jahren. Unser Ziel ist es, diese jungen Leute aufzubauen und nicht zu „verbrennen“. Sie sollen wachsen und sich gesund entwickeln können – persönlich und beruflich. Deshalb haben wir unsere drei Lokale jeweils an nur fünf Tagen geöffnet, dreimal im Jahr haben wir für jeweils zwei Wochen ganz geschlossen. Diese Erholungsphasen sind wichtig – auch das verstehen wir unter Nachhaltigkeit.
Und nun zum dritten Begriff: Was verstehen Sie unter Konsumethik und wie setzen Sie sie in ihren Restaurants um?
Wir versuchen uns in ethischen Konsum: Indem wir „Roter Hahn“-Produkte verwenden, Lebensmittel aus der Gegend, aus biologischem Anbau oder fairem Handel oder solchen mit reduziertem CO2-Ausstoß. Manchmal gibt es da Überschneidungen, manchmal muss man auch abwiegen: Ist es besser, ein biologisches Produkt von weiter her zu kaufen oder ein konventionelles Produkt aus der Nähe? Wir versuchen, mit Hausverstand zu entscheiden, was im Moment Sinn ergibt. Eines ist natürlich klar: Wir sind nicht perfekt, aber wir geben uns Mühe, bewusst einzukaufen und ethisch zu konsumieren.
Das Kochbuch trägt den Titel „Nanas Küche – 66 Wohlfühlgerichte aus der Südtiroler Bergbauernküche“. Darin erzählen Sie die Geschichte von sechs alten Frauen bzw. Omas aus Süd- und Osttirol und halten ihr kulinarisches Vermächtnis fest. Haben Sie damit Ihr Studium mit Ihrer heutigen Tätigkeit zusammengeführt?
Ja, das kann man wohl so sagen. Wir, der Fotograf Udo Bernhart und ich, haben in dem Buch Zeitzeuginnen besucht, ihre Erinnerungen erzählt und auch ihre Rezepte festgehalten. Das war insofern eine Herausforderung, weil diese Frauen ja eher intuitiv gekocht haben, also ohne Maßangaben und Waagen. Da hieß es: „Nimm ein bissl von dem und dann schaust halt, dass es in etwa die Konsistenz kriegt.“ Ich habe dann versucht, ihre Erinnerungen niederzuschreiben und ihre mündlich überlieferten Rezepte für die Nachwelt zu erhalten. Ich habe damit wirklich eine Verbindung geschaffen zwischen Geschichtsarbeit und der Arbeit eines Kochs bzw. eines Kochbuchautors.
Weshalb ist diese „Omaküche“ – Sie nennen sie auch „Wohlfühlküche“ – so wichtig für Sie, dass Sie ihr ein Buch gewidmet haben?
Den Wohlfühl-Aspekt hat der Verlag hinzugefügt. Dabei geht es in dem Buch keineswegs um die heutige Wohlfühlküche mit wenig Kalorien, supergesund und schlank. Im Mittelpunkt stehen vielmehr gehaltvolle Gerichte, die gemeinsam an einem besonderen Ort genossen werden, wo es so richtig „hoamatlet“. Es geht also um Heimat, ganz stark um das Soziale, das Gefühl der Geborgenheit. Es geht ums Angenommen- und Angekommensein, das die Gerüche, der Holzherd, alles in Omas Küche für mich und für unsere ganze Familie bedeutet hat. Und für viele andere Familien gilt, denke ich, dasselbe. Da geht es um Essen in Gemeinschaft, die die Seele wärmt, die einen rundherum wohlfühlen lässt.
Sie haben es gerade gesagt: Ihre eigene Großmutter kommt auch in dem Buch vor. Was bedeutet Ihnen das Buch?
Nachdem wir den Dreh mit meiner Oma gemacht hatten, sagte ich ihr noch: „In etwa einem halben Jahr ist das Buch fertig, dann bringe ich’s dir vorbei“. Und sie hat geantwortet: „Sem bin i schun toat.“ Sie hat tatsächlich recht gehabt, kurz bevor wir das Buch fertig hatten, ist sie gestorben. Deshalb ist das Buch für alle aus meiner Familie eine liebe Erinnerung an meine Oma, und wir nehmen es deshalb gerne und immer wieder in die Hand. Aus diesem Grund ist dieses Buch zwar ein Kochbuch, aber für mich/uns auch ein ganz persönliches Erinnerungsstück.