Eine etwas spezielle Sorte
Von der Antike bis ins Supermarktregal: Die faszinierende Welt der Apfelsorte Annurca war Thema einer Lehrfahrt des Bundes Südtiroler Baumschuler nach Kampanien. Weltweit einmalig ist die Praxis des Nachreifens im Freiland in den „Melai“.
Im italienischen Lebensmitteleinzelhandel findet man heute eine Apfelsorte, die es bereits seit zwei Jahrtausenden gibt und das, obwohl die Äpfel nach der Ernte in Handarbeit unter freiem Himmel zum Nachreifen ausgelegt werden müssen: Das ist kein Märchen, sondern eine sehenswerte Realität im süditalienischen Obstbau. Bei der diesjährigen Studienfahrt des Bundes Südtiroler Baumschuler konnten die elf Teilnehmerinnen und Teilnehmer viel Interessantes rund um diese Besonderheit erfahren, deren Geschichte bis in die römische Zeit zurückreicht. Bereits auf antiken Gemälden in Herkulaneum ist sie abgebildet: Im Laufe der Jahrhunderte wandelte sich die Bezeichnung von „anorcola“ über „annorcola“ bis hin zum Begriff „Annurca“, den der Botaniker Giuseppe Antonio Pasquale 1876 prägte. Die Lehrfahrt der Südtiroler Baumschuler wurde von Claudio Di Vaio, Professor an der Universität Neapel, und Giuseppe Giaccio organisiert, beide begleiteten die Gruppe aus Südtirol während der Studienfahrt.
Das ursprüngliche Annurca-Anbaugebiet rund um Neapel ist heute weitgehend urbanisiert, sodass sich der Anbau in den letzten Jahrzehnten ins Inland und in Hügellagen bis zu 450 Meter über dem Meer vor allem in die Provinz Caserta verlagert hat. Die wichtigste Obstkultur in dieser Provinz ist das Steinobst mit geschätzten 18.000 Hektar Anbaufläche. Der Anbau von Haselnüssen wurde aufgrund der Nachfrage von Ferrero stark ausgeweitet. Äpfel werden auf etwa 2.000 Hektar Fläche angebaut, wobei Annurca 80 Prozent des Sortiments ausmacht. Die Sorte Annurca hat ein recht starkes Wachstum, zeigt einen aufrechten Habitus und neigt etwas zu Alternanz. Aufgrund des sehr kurzen Fruchtstiels ist sie sehr anfällig für Vorerntefruchtfall. Die Frucht ist mittelgroß bis klein, abgeflacht und asymmetrisch. Die Fruchtgrößen liegen zwischen 60 und 80 Millimetern, die Ertragsanlagen erzielen in den süditalienischen Breitengraden für Südtiroler Verhältnisse bescheidene 20 bis 30 Tonnen pro Hektar. Annurca hat eine rote, leicht gestreifte Deckfarbe auf gelbgrünem Hintergrund, wenige Lentizellen und typische Stielberostung. Es existieren Farbmutanten, wobei heutzutage vorwiegend „Annurca Rossa del Sud“ gepflanzt wird. Das Fruchtfleisch ist schneeweiß, die offene Kelchröhre erhöht die Anfälligkeit für Kernhausfäulnis. Annurca hat einen süßsäuerlichen, würzigen Geschmack mit feiner duftender Aromatik. Das Fruchtfleisch ist nur moderat saftig und von mittelmäßiger Konsistenz.
Die Praxis des Nachreifens im Freiland
Weltweit einmalig ist die Praxis des Nachreifens im Freiland in sogenannten „Melai“. Die Früchte werden aufgrund der Gefahr des starken Vorerntefruchtfalls in den Monaten September/Oktober noch unreif geerntet und reifen auf speziellen Flächen nach. Dabei handelt es sich um kleine, eigens dafür angelegte Parzellen, mit einer Breite von maximal 1,50 Metern. Damit keine Staunässe entsteht, werden darauf verschiedene weiche Materialien ausgelegt: Früher wurde Hanf verwendet, heute werden stattdessen Kiefernnadeln, Holzspäne oder andere pflanzliche Materialien bzw. Vliesfolien eingesetzt. Zum Schutz vor übermäßiger Sonneneinstrahlung werden die Melai durch Hagelnetze geschützt, in früheren Zeiten nutzte man Kastanienäste. Falls die Temperaturen im September zu hoch sind, wird mit Wassernebulisatoren gekühlt. Die Temperaturschwankungen im kampanischen Herbst fördern die Farbpigmentsynthese, sodass die Früchte nach etwa zehn bis 30 Tagen ihre charakteristische vollständige Rotfärbung erhalten. Während dieses Prozesses wird in den Früchten die Säure abgebaut, weitere Aromastoffe werden entwickelt. Das Fruchtfleisch wird zarter und die Stärke fast vollständig abgebaut. Die Früchte werden einzeln ausgelegt und mindestens einmal per Hand gewendet. Verluste von bis zu 20 Prozent sind aufgrund des Gewichtsverlusts und anderer Ausfälle möglich. Im besuchten Betrieb Giacciofrutta, der neben Luce einer der beiden größten Produzenten von Annurca ist, stehen zwölf Hektar Land für diese Maßnahme zur Verfügung, welche dort kontinuierlich über mehrere Monate stattfindet. Auffallend war eine hohe Präsenz von indischen Saisonarbeitern, welche langsam die afrikanischen Erntegehilfen abzulösen scheinen. Das Konsortium „Melannurca Campana IGP“ vermarktet von der geschätzten Gesamtproduktion von 70.000 Tonnen etwa 40 Prozent unter der geschützten Herkunftsbezeichnung. Die Richtlinien schreiben die Etikettierung jeder Frucht vor. Die Vermarktungssaison beginnt im November und reicht bis Februar/März, maximal April. Einzelne Partien werden vor und nach der Ausbringung in den Melai mit 1-MCP behandelt, um die Haltbarkeit zu verlängern.
Spezialität für Liebhaber
Annurca ist auf dem italienischen Markt eine Spezialität für Liebhaber und Kenner, 40 Prozent der Produktion werden in der Region Kampanien konsumiert. Im Handel liegt sie im Hochpreissegment ab 2,50 Euro pro Kilogramm. Bioware wird nicht produziert. Die Auszahlungspreise für die Erzeuger liegen laut Aussagen der besuchten Betriebe je nach Jahr und Rahmenbedingungen zwischen 50 Eurocent und einem Euro je Kilogramm. Trotz der Hingabe zur Tradition ist man auch bei der Sorte Annurca bemüht, den Anbau zu modernisieren und Innovatives zu wagen. Über die Universität Neapel läuft beispielsweise ein Unterlagenversuch mit G41 und G213 als Alternative zu M9. Zudem sind bereits einige spezielle Verarbeitungsprodukte entwickelt worden, vom sortenreinen Apfelessig bis zu Nahrungsergänzungsmitteln mit Extrakten dieser Sorte, da sie einen überdurchschnittlich hohen Polyphenolgehalt aufweist. Der angeblich späte Ertragseintritt von Annurca könnte wahrscheinlich mit qualitativ hochwertigerem Pflanzmaterial – lokale Baumschulen produzieren vorwiegend unverzweigte Fertigbäume – und agronomischen Maßnahmen in den Junganlagen signifikant verbessert werden.
Die Reisegruppe des Bundes Südtiroler Baumschuler beim Betrieb Giacciofrutta