Kinder und Jugendliche trauern anders als Erwachsene. Sie dabei bedürfnisorientiert zu begleiten, ist Ziel des Projekts „Lebendig trauern“.

Gemeinsam an der Trauer wachsen

Kindern und Jugendlichen einen Raum für die Trauer geben, das wollen vier Trauerbegleiterinnen. Gemeinsam mit dem Bäuerlichen Notstandsfonds bieten sie heuer das Projekt „Lebendig trauern“ an: an vier Tagen über das ganze Jahr verteilt und an besonderen Orten.

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Leben

Gabriela Mair am Tinkhof, Tanja Fischer, Nadia Kofler und Ulrike Rehmann sind die Trauerbegleiterinnen des Projekts „Lebendig trauern“. Ihre Aufgabe ist es, Familien, die den Verlust eines geliebten Menschen erleben müssen, in ihrer Trauer zu begleiten, vor allem Kinder und Jugendliche. Sie sind überzeugt, dass man jungen Menschen Trauer zumuten darf. Oder besser: zutrauen MUSS. Und sie sollten dabei von mitfühlenden und nicht mitleidenden Erwachsenen unterstützt werden.

Südtiroler Landwirt: Frau Mair am Tinkhof, Frau Kofler, gemeinsam mit zwei Kolleginnen und dem Bäuerlichen Notstandsfonds haben Sie das Projekt „Lebendig trauern“ auf die Füße gestellt. An wen richtet sich dieses Projekt und worin besteht es?

Nadia Kofler: Das Projekt richtet sich vor allem an Kinder und Jugendliche im Alter von fünf bis 16 Jahren und bei Bedarf auch an Erwachsene. Es geht dabei in erster Linie darum, einen Tag gemeinsam zu verbringen. Unsere Aufgabe bei dem Projekt ist zu verstehen, was die Kinder und Jugendlichen in diesem Moment brauchen und wie wir sie dabei unterstützen können.

Kinder und Jugendliche können für einen Tag angemeldet werden, sie können aber auch zwei, drei oder alle vier Termine im Laufe des Jahres wahrnehmen. 

Nadia Kofler:
Das Besondere an dem Projekt „Lebendig trauern“ ist, dass es an vier Tagen stattfindet, die über das ganze Jahr verteilt sind. Die Treffen finden in verschiedenen Landesteilen statt, immer an Orten, wo man sich viel draußen aufhalten kann. Man kann sich wie gesagt für einen Tag anmelden, um zu schauen, wie es einem dabei geht. Das Spezielle an dem Projekt ist aber, dass man sich auch für mehrere Treffen anmelden kann und dadurch immer wieder Ankerpunkte im Laufe des Jahres hat, also lebendige, bunte Tage, die man miteinander verbringt und an denen die Gefühle und Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen im Zentrum stehen. Das heißt konkret, man kann einen der Tage einzeln buchen, um zu verstehen, ob das das Richtige für einen ist. Und man kann auch einen der nachfolgenden Termine buchen und hat dann die Möglichkeit, sich wiederzusehen. Es gibt nämlich Kinder und auch Jugendliche, die sich wünschen, sich mit anderen Gleichaltrigen auch öfter zu treffen.

Wie kann man sich so einen Tag vorstellen? Wie konkret arbeiten die Trauerbegleiterinnen mit den Trauernden?

Tanja Fischer:
Der Tag soll vor allem lebendig ablaufen. Entsprechend möchten wir der jeweiligen Gruppe ein konkretes Angebot für einen kreativen, spielerischen Tag machen. Die Kinder und Jugendlichen können sich dann selbst aussuchen, woran sie arbeiten möchten, zum Beispiel an ihren Gefühlen, an ihren Erinnerungen oder Kraftquellen. Der Tag ist aber strukturiert durch beispielsweise ein gemeinsames Mittagessen oder gemeinsames Spielen in der Natur.

Wie vordergründig ist die Trauerarbeit in dem Projekt „Lebendig trauern“? Und wie viel passiert unterschwellig?

Gabriela Mair am Tinkhof:
Unterschwellig passiert sicher viel bei dem Projekt. Allein schon deshalb, weil die Kinder und Jugendlichen genau wissen, wieso sie dabei sind. Wir werden auch jeden dieser Tage damit beginnen, das als Basis zu definieren: Uns alle hier verbindet, dass wir einen lieben Menschen verloren haben, egal ob Mutter/Vater, Geschwisterkind, Oma/Opa oder wen auch immer wir verabschieden mussten. An diesen Tagen werden aber nicht Gespräche im Vordergrund stehen. Kinder brauchen eher ein kreatives, spielerisches Angebot. Denn sie trauern ganz anders als Erwachsene. 

Sie sagen, dass Kinder und Jugendliche anders trauern als Erwachsene. Wie erleben Kinder den Verlust eines lieben Menschen, zum Beispiel der Mutter oder des Vaters?

Gabriela Mair am Tinkhof:
Ja, das ist definitiv so. Bei Kindern beispielsweise verwendet man oft das Bild vom Springen in die Pfützen: Kinder „springen“ in die Traurigkeit, trauern dann vielleicht auch tränenreich und heftig, ebenso schnell „springen“ sie auch wieder heraus und sind dann wieder ausgelassen und fröhlich. Das kann von außen betrachtet irritierend sein. Und deshalb ist es für die Kinder umso wichtiger, dass sie sich in ihrer Trauer wahrgenommen fühlen, dass sie ihre Gefühle in all ihrer Ausprägung leben dürfen: Das kann auch mal Wut sein, weil man sich von der Mutter/dem Vater alleingelassen fühlt, oder Trauer, weil man sich einsam fühlt, oder Hilflosigkeit. Aber man kann natürlich auch Freude spüren, weil man sich irgendwo wohlfühlt oder mit Freunden etwas macht. Kinder können solche Gefühle oft nicht verbalisieren. Darum ist es umso wichtiger, dass die Trauerarbeit über einen kreativen Prozess geschieht. 

Nadia Kofler: Je nach Alter entwickelt sich auch die Trauer anders. Das bedeutet, dass bei Kindern der Trauerprozess insgesamt auch länger dauert. Kleine Kinder spüren eher Trennungsängste, Verlustängste kommen eher später dazu. Konkret heißt das, dass etwa eine Vierjährige den Tod der Mutter vor allem als Verlust empfindet. Erst später, mit vielleicht acht Jahren, kommt die Angst dazu, auch noch den Vater zu verlieren. Gerade wenn ein Elternteil stirbt, kommt erschwerend dazu, dass das für die Kinder auch einen Verlust des Urvertrauens bedeutet. Und trotzdem ist es wichtig, dass man den Kindern zutraut, mit der Trauer umzugehen. Dabei brauchen sie aber Unterstützung, damit sie das Vertrauen bekommen, dass sie diese schwierige Situation meistern können, dass sie das schaffen …

Und wie ist es bei Jugendlichen: Wie gehen die mit Verlust um?

Tanja Fischer:
Jugendliche suchen weniger den Kontakt zur engen Familie, sondern eher zu Freunden. Je nachdem, wie der Freundeskreis ist, kann die Trauer auch dort Raum bekommen. Trotzdem ist es gut, wenn eine Begleitperson von außen hinzugezogen wird, die Fragen stellt und einen Raum schafft, wo die Jugendlichen einfach sein dürfen, wie sie sind. Oft geben sich Jugendliche nach außen hin total cool, weil sie das alles ja auch allein schaffen. Aber je härter die Schale, umso verletzlicher ist in der Regel der Kern. Darauf ist zu achten. Dabei sind Jugendliche imstande, Trauer zu „vertagen“. Das bedeutet, sie können die Trauer in dem Moment nicht leben, weil sie gerade so viel zu bewältigen haben. Dann wäre zusätzliche Trauerarbeit einfach zu viel. In dem Fall ist es sogar gut, wenn die Trauer auf später „aufgehoben wird“, aber irgendwann kommt sie. 
Da sollte man dann auch nicht zu viel Druck ausüben: Sie müssen nicht genau jetzt reden oder jetzt die Hilfe in Anspruch nehmen. Aber sie müssen von dem Angebot wissen und später, wenn es dann so weit ist, wissen, wo sie Hilfe finden können.
Ulrike Rehmann: Manchmal ist es ja auch so, dass jüngere Geschwister da sind. Dann neigen Jugendliche oft dazu, die fehlende Mutter/den fehlenden Vater zu ersetzen zu versuchen. Oder sich nicht gestatten, die eigenen Gefühle auszuleben, weil sie ständig Rücksicht nehmen und nicht zusätzlich belasten wollen. Dann ist es gut, wenn sie mal einen Tag haben können, an dem sie einfach Jugendlicher sein dürfen, weder stark noch tapfer sein müssen für die Kleineren oder für den hinterbliebenen Elternteil.

Meistens ist auch für die Eltern selbst die Trauerzeit sehr fordernd: Neben der eigenen Trauerarbeit und der organisatorischen Mehrbelastung kommen vielleicht auch finanzielle Sorgen dazu. Was können Eltern tun, um ihre Kinder/Jugendlichen in dieser schweren Zeit zu begleiten? 
Ulrike Rehmann:
Neben der Trauerbewältigung finde ich sehr wichtig, selbst zu spüren, wie es einem geht und was man braucht. Und dann auf die Kinder zuzugehen und bei ihnen nachzufragen: Was brauchst du? Und was würde dir jetzt helfen? So kann man dann gemeinsam versuchen, die Situation zu meistern. Man darf – das wurde vorher schon gesagt – den Kindern und Jugendlichen Trauer zumuten, vor allem muss man sie ihnen zutrauen. Sie müssen das Vertrauen bekommen, dass sie das schaffen. Mit unserer Begleitung und mit dem Bemühen, die/den Verstorbene/-n in der Familie zu behalten, in unserer Erinnerung. Der größte Einschnitt ist ja, dass dieser Mensch nicht mehr da ist – rein physisch. Aber in der Erinnerung kann er noch da und lebendig sein: Dabei helfen Rituale, um den Verstorbenen ihren Platz in der Familie zu erhalten. 
Gabriela Mair am Tinkhof: Was Kindern und Jugendlichen auch hilft, ist, zu wissen, dass Mama oder Papa sich Hilfe holen. Dass es also nicht in ihrer Verantwortung liegt, ihnen zu helfen. So bleiben Mutter und Vater das Rückgrat der Familie und für die Kinder bleiben sie Gesprächspartner. Wichtig ist auch, den Kindern zu signalisieren: „Wir dürfen trauern und traurig sein. Aber wir halten zusammen, haben Freunde und Menschen rund um uns, die uns in dieser schwierigen Situation helfen. Und es wird sicher wieder besser.“ Und man sollte versuchen, immer wieder festzuhalten, wenn man einen schönen Tag gehabt hat oder wenn etwas gut geklappt hat. So bekommt man selbst und auch die Kinder das Gefühl, dass man Schritte nach vorne macht, dass man Stück für Stück weiterkommt.

Wieso, glauben Sie, braucht es gerade für Kinder und Jugendliche eine professionelle Begleitung in ihrer Trauerarbeit?
Tanja Fischer:
Für trauernde Kinder und Jugendliche ist es wichtig, Perspektiven zu schaffen. Mama und Papa sind aber selbst in ihrer Trauer gefangen. Wir als Außenstehende können diese Perspektive aufzeigen: Man darf und soll trauern, es ist eine schwierige Situation gerade, aber es wird wieder besser. Eltern wissen oft auch nicht, wie sie auf Fragen antworten sollen, sie sind oft unsicher, wie sie reagieren sollen. Auch hier sind wir Hilfe und Unterstützung. Und nicht zuletzt bieten wir den Kindern Begleitung, sie müssen niemanden im Familienkreis belasten, dürfen traurig oder fröhlich sein, wütend oder deprimiert, müssen sich und ihre Gefühle nicht zurücknehmen. Wir sind nicht verstrickt, dadurch bekommt ihre Trauer einen Raum.

Vielleicht will das Kind diesen Raum aber gar nicht. Kann man jemanden zwingen, sich mit dem Verlust/der Trauer auseinanderzusetzen? 
Gabriela Mair am Tinkhof:
Zwingen geht absolut nicht, das ist auch nicht in unserem Sinne. Aber: Gerade Kinder brauchen auch trauerfreie Orte, den Kindergarten oder die Schule beispielsweise. Es kann also sein, dass gerade die Trauerbegleitung dieser trauerfreie Ort ist, so paradox das klingt. Trauerbegleitung heißt ja nicht, ich muss jetzt trauern und traurig sein. Trauerbegleitung heißt vielmehr: Es gibt einen Raum für die Trauer. Das ist unser Angebot. Vielleicht spielen wir auch nur „Mensch ärgere dich nicht!“ oder tun sonst etwas, was daheim manchmal einfach nicht mehr geht. 

Wer mehr Informationen zur Trauerbegleitung „Lebendig trauern“ haben möchte, kann sich gerne mit dem Bäuerlichen Notstandsfonds (BNF) in Verbindung setzen: notstandsfonds@sbb.it; www.menschen-helfen.it

Interview: Renate Anna Rubner

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