Man muss nicht immer „alles unter einen Hut kriegen“: Entspannungsrituale helfen dabei, Stress abzubauen oder erst gar nicht aufkommen zu lassen.

Energie konsequent lenken

Stress fördert Leistung, kann aber auch krank machen. Deshalb sollte man lernen, damit umzugehen. Das gilt für Spitzensportler ebenso wie für Bäuerinnen und Bauern, sagt der Sportpsychologe Hans-Dieter ­Hermann. Er ist Gastreferent der UaB-Tagung am 14. Oktober.

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Leben

„Jede Arbeit ist eine potenzielle ­Tankstelle – wenn man sie mag“, sagt Hans-Dieter Hermann im Interview mit dem „Südtiroler Landwirt“. Der Gastreferent der diesjährigen Fachtagung für Urlaub auf dem Bauernhof war 20 Jahre lang Sportpsychologe der Deutschen Fußballnationalmannschaft und wird erklären, was Bäuerinnen und Bauern von Spitzensportlerinnen und -sportlern lernen können. Und welche Rolle dabei Rituale spielen oder die Familie.

Südtiroler Landwirt: „Herr Hermann, Sie waren bis letztes Jahr Sportpsychologe der Deutschen Fußballnationalmannschaft und sprechen bei der UaB-Tagung am 14. Oktober über Stress und was Bäuerinnen und Bauern vom Spitzensport übernehmen können. Was definieren Sie als Stress? Viel Arbeit allein ist wohl zu wenig …
Hans-Dieter Hermann:
Das ist völlig richtig. Viel Arbeit hat nicht zwingend etwas mit Stress zu tun. Wenn mir eine Arbeit oder eine Tätigkeit Spaß macht, kann sie sogar helfen, vorhandenen Stress besser zu bewältigen. Arbeit wird dann zu Stress, wenn wir uns überfordert fühlen oder Angst um unsere Existenz haben müssen. Das kann dann passieren, wenn uns mehr Energie abverlangt wird, als uns zur Verfügung steht. Oder wenn wir das Gefühl haben, dass wir unsere gesetzten Ziele und Anforderungen trotz größter Anstrengung nicht erreichen können. Streng genommen sprechen wir von Stress, meinen aber die Stressreaktion, also die Art und den Umfang, wie unser Kopf und unser Körper mit Belastungen umgehen.

Was machen Spitzensportlerinnen und -sportler, um Stress gar nicht aufkommen zu lassen bzw. gut abzubauen?
Auch wenn es Sie wundern sollte: Fast alle Spitzensportler erleben Stress. Und das ist prinzipiell nicht schlecht, denn Stress ist auch leistungsfördernd. Er sorgt dafür, dass der Körper zusätzlich Energie zur Verfügung stellt, z. B. durch die Ausschüttung von Adrenalin und Cortisol. Aber Dauerstress ist ein echtes Problem und er kann krank machen – Spitzensportler ebenso wie Nichtsportler. Deshalb ist es auch im Leistungssport wichtig zu lernen, mit Stress umzugehen, z. B. Rituale zu entwickeln, die helfen, im richtigen Moment den Organismus hoch- oder runterzufahren bzw. entsprechende Techniken zu beherrschen. Das Geheimnis der Spitzensportlerinnen und Spitzensportler liegt also vor allem in einer aktiven Steuerung von Anspannung und Entspannung. 

Auf Sportlerinnen und Sportlern lasten viele Erwartungen. Bei Bäuerinnen und Bauern mit Urlaub auf dem Bauernhof ist es ähnlich: Familie, Landwirtschaft und Gäste haben Bedürfnisse und Erwartungen, die erfüllt werden sollten. Wie kann man alles unter einen Hut kriegen?
Die eigenen Erwartungen sind oft viel schwieriger zu erfüllen als die, die von außen kommen: z. B. die Erwartung, „alles unter einen Hut zu kriegen“, also allem und jedem zu 100 Prozent gerecht zu werden. Wir sollten uns unbedingt mit der Frage auseinandersetzen, ob das wirklich immer möglich und notwendig ist. In vielen Fällen lautet die Antwort: Nein.  Ausgehend von einer realistischen Einschätzung ist es dann hilfreich, seine Energie konsequent auf Faktoren zu lenken, die man beeinflussen kann. Man sollte sich also trotz aller Anforderungen die Frage stellen: Was liegt in meinem Einflussbereich, um besser durch den Tag zu kommen, und wo muss ich eventuell auch einmal Nein sagen?

Ein Bauernhof ist eine Kraftquelle für die Gäste. Wie können sich auch Bäuerinnen und Bauern diese Kraftquelle erschließen, obwohl ein Bauernhof vor allem ja viel Arbeit bedeutet?
Für unterschiedliche Menschen funktio­nieren unterschiedliche Kraftquellen. Für die Gäste ist der Bauernhof ein Ort der Ruhe und Entschleunigung. Sie kommen raus aus ihren normalen Rhythmen, Zielen, ihrem Leistungsdenken. Sie dürfen sich einlassen auf Genuss, Freude, Natur. Wir bezeichnen Tätigkeiten oder Umgebungen, die dieses Umschalten unterstützen, als sogenannte „Gegenwelten“, weil sie nach anderen Regeln funktionieren als die Alltagswelt. Für alle Bäuerinnen und Bauern ist der Bauernhof aber in erster Linie Alltag. Auch wenn man mit Herz und Seele dabei ist, auch wenn man seine Arbeit wirklich liebt, bleibt es Alltag.  Deshalb ist es für Bäuerinnen und Bauern wichtig, eigene „Gegenwelten“ zu haben, also Tätigkeiten und Orte außerhalb des Bauernhofs, die durch Genuss, Freude und Selbstbestimmung beim Energietanken helfen.

Die Familie kann Kraft geben. Wie kann das gelingen?
Familien sind komplexe soziale Systeme. Dementsprechend ist es schwer, einzelne Komponenten zu benennen, die ein Erfolgsgarant für Familie als Kraftquelle sind. Denn Systeme sind immer in Bewegung und nicht jede Entwicklung wird von allen als positiv erlebt. Deshalb geht es für eine langfristig positive Energie im System häufig darum, die Dynamik in Balance zu halten. Damit meine ich die richtige Mischung aus Nähe und Distanz, die richtige Mischung aus Kontrolle und Loslassen, eine gute Mischung aus Verantwortung und Freiheit. Daneben gibt es aber noch viele andere Komponenten, die eine Rolle spielen. Für die meisten gilt: Die richtige Dosierung ist entscheidend. Aber ganz grundlegend ist sicher auch innerhalb einer Familie die Bereitschaft gut, sich nicht gegenseitig mit zu hohen Erwartungshaltungen unter Druck zu setzen, sondern jedes einzelne Familienmitglied so anzunehmen, wie es ist.

Und nicht zuletzt ist die Arbeit draußen in der Natur und mit den Tieren eine potenzielle Tankstelle. Auch da muss man aber den richtigen Schlüssel dazu finden. Was raten Sie Bäuerinnen und Bauern?
Jede Arbeit ist eine potenzielle Tankstelle – wenn man sie denn mag. Wenn man sich hingegen dazu zwingen muss, Tiere und Natur gut zu finden, muss schon auch die Frage erlaubt sein, ob man den richtigen Beruf ausübt. Aber Gott sei Dank sind Tiere und die Natur für die meisten Menschen positiv besetzt. Das ist nicht nur unser subjektives Gefühl, sondern zeigt sich auch immer wieder in entsprechenden Studien. Beispielsweise können positive Einflüsse auf die Spannungsregulation und das Immunsystem nachgewiesen werden. Wenn man diese Tankstelle, wie Sie sie nennen, gezielt nutzen möchte, ist eine achtsame Haltung hilfreich. Achtsam sein bedeutet, auch im Alltag immer wieder ganz bewusst Augenblicke und Eindrücke zu erleben, mit Gedanken und Gefühlen nur im Moment zu sein, um ihn voll und ganz genießen zu können. 

Gibt es ein, zwei kleine Tricks oder Tipps, die man beherzigen kann, um gut mit Stress umgehen zu lernen? Können Sie uns die verraten?
Gern! Wenn ich zwei konkrete Strategien herauspicken darf, schlage ich Regeneration und Rituale vor. Bewusst zu regenerieren, ist genauso professionell wie die Arbeit selbst. Deshalb ist es ebenfalls professionell, wenn man Regenerationszeiten fest und gleichberechtigt im Terminkalender einplant. Und: Kleine Rituale geben Menschen Halt, Sicherheit und Struktur. Sie geben uns die Möglichkeit durchzuatmen und neue Kraft für die nächste Aufgabe zu tanken. Gute Rituale müssen nicht viel Zeit in Anspruch nehmen. Wichtig ist vor allem, dass sie regelmäßig durchgeführt werden. Ich nenne ein paar Beispiele: Zehn Minuten Gymnastik oder Yoga nach dem Aufstehen, der Genuss einer guten Tasse Kaffee am Nachmittag oder auch entspannende Atemübungen können solche Rituale sein. Anregungen für Gymnastik und Atemtechniken finden Sie mit Sicherheit im Netz – das Angebot ist sehr groß … 

Interview: Renate Anna Rubner

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