Über Gewalt sprechen lernen
In dem Buch „Ja, das bin ich und das ist meine Geschichte“ geht es um Gewalt an Frauen in all ihren Ausprägungen: Die Autorin Julia Ganterer versucht mit ihrem Werk aber auch, Hilfestellung zu leisten: Um Gewaltsituationen erkennen zu können und Mut zu fassen, sich daraus zu befreien.
„In diesem Buch geht es nicht darum, zu erfahren, was richtig oder falsch ist, sondern darum, über Gewalt sprechen zu lernen“, erklärt Julia Ganterer im Vorwort von „Ja, das bin ich und das ist meine Geschichte“ – Frauen und ihre Wege aus der Gewalt. Das im Raetia-Verlag erschienene Buch befasst sich nicht nur mit den Geschichten von Betroffenen, die in ihrem Leben Gewalt unterschiedlichster Art erfahren haben. Es geht auch darum, „ein Vokabular für erlittene Gewalt in Partnerschafts- und Familienbeziehungen zu finden, damit die Vergangenheit verarbeitet werden kann, gegenwärtig drohenden und eskalierenden Situationen nicht mit Gegengewalt begegnet wird, sondern zukünftig gewaltfrei gelebt werden kann“.
Geschichten werden erzählt und aufgearbeitet
Zunächst werden betroffene Frauen in Kurzbiographien vorgestellt. Dann werden nach und nach ihre Geschichten erzählt und aufgearbeitet. Bei Leni beispielsweise geht es unter anderem um Herabsetzung und psychische Gewalt durch ihren Partner. Im Folgenden ein Auszug aus dem Buch, in dem sie von ihren Erfahrungen erzählt: „Die verbale Gewalt, also die Gewalt durch Worte, zählt zur Form der psychischen Gewalt und ist die wohl am meisten verbreitete. Gleichzeitig ist sie die in der Gesellschaft am wenigsten reflektierte Form der Gewalt. Bei der verbalen Gewalt sind nicht, wie bei den unterschiedlichen Formen der körperlichen oder sexualisierten Gewalt, äußerliche Verletzungen und offensichtliche Spuren wie blaue Flecken, Fingerabdrücke, Ejakulationsrückstände ersichtlich. Vielmehr befinden sich die emotionalen Narben und Gewaltspuren in der eigenen Seele. Der verbalen Gewalt wird auch deshalb wenig Aufmerksamkeit gewidmet, weil erstens sehr vielen Menschen die Macht ihrer Worte kaum bewusst ist und zweitens wir alle damit unbewusst oder bewusst konfrontiert werden. So erzählt Leni von alltäglichen Beschimpfungen ihres mittlerweile verstorbenen Mannes: ,Mich hat er mit dem Reden kaputtgemacht, mit dem ordinären Gerede. Du Lusche, du Schlampe, so hat er mich genannt. Einfach furchtbar. Er hat nichts akzeptiert, er hat bei sich nie einen Fehler gesehen. Die Schuld hab immer nur ich bekommen.‘ Viele Menschen, seien es nun Erwachsene, Jugendliche oder Kinder, messen ihren Worten und Zuschreibungen kaum Bedeutung bei. Es ist jedoch unumstritten, dass Äußerungen wie ,Du bist dumm‘, ,Ohne mich bist du gar nichts‘, ,Du Fotze‘ oder ,Mach das noch einmal …‘ die eigene Psyche sehr verletzen und schwere Auswirkungen auf den Selbstwert und das Selbstvertrauen haben. Oft erleben von Gewalt Betroffene in ihrem sozialen Nahraum alltäglich solche oder ähnliche Beleidigungen und Drohungen.
Auch Leni erzählt davon und wie sie versuchte, ihre Kinder vor der alltäglichen Gewalt zu schützen. ,Mein Mann war Alkoholiker und seine Wutausbrüche sind durch das Gesaufe immer schlimmer geworden. Ich habe zwar versucht, die Kinder davor zu schützen, indem ich sie in den Kindergarten geschickt habe oder in die verschiedenen Vereine vor Ort, damit sie eben nicht zu viel vom Alkoholkonsum ihres Vaters mitbekommen. Bis er dann aber angefangen hat, mich das erste Mal vor den Kindern zu schlagen. Beim zweiten Mal bin ich dann zum Verein ‚Frauen helfen Frauen‘, um Hilfe zu suchen. Sie haben mir gesagt, dass ich meinen Mann anzeigen soll, das wollte ich aber nicht, weil ich Angst hatte und er auf dem Hof allein war und mit der Arbeit nicht nachkommen würde. Ich habe ihm aber mit einer Anzeige bei den Carabinieri gedroht. Das wurde ihm dann zu bunt und daraufhin hat er mich auch nicht mehr angerührt. Aber psychisch, mit dem Mund, hat er mich niedergemacht: Eine Frau gehört hinter den Herd und ins Bett!‘
Viele Frauen versuchen oft über Jahre hinweg, ihre Ehe oder Partnerschaftsbeziehung zu retten. Sie versuchen es mit Gesprächen, mit Liebesbekundungen oder indem sie ihr Verhalten, ihre Gewohnheiten und Ansichten zum Wohle ihres Partners verändern. Wenn, dann ist der Erfolg nur von kurzer Dauer. Manchmal ist es auch umgekehrt: Männer werden oft gerade dann besonders aggressiv, wenn Frauen versuchen, in der Familie und ihrer Beziehung Harmonie herzustellen. Gerade in solchen Episoden begegnen manche Männer ihren Partnerinnen und Kindern gegenüber mit Abwertung, Wut, Kontrolle und übergriffigem Verhalten. Die betroffenen Frauen, aber auch Kinder suchen nach Gründen und finden diese sehr oft bei sich selbst. Geben sich die Schuld, dass sie keine harmonische Familie sind oder keine feste Bindung zu ihrem Partner haben, sie keine Einheit sind.
Wie bereits angedeutet, ist psychische und emotionale Gewalt schwerer zu fassen als körperliche Gewalt, und das nicht nur für die Betroffenen selbst, sondern auch für ihr soziales Umfeld. Worte hinterlassen nicht wie Schläge sichtbare körperliche Verletzungen, sondern stumme und tiefgehende Spuren. Gleichwohl sind sie zerstörerischer als Schläge, Würgegriffe und Fußtritte, weil diese Wunden (meist) schneller verheilen und sichtbar verschwinden. Die unsichtbaren, stummen physischen Verletzungen von Gewalt und Missbrauch bestehen meist unbemerkt und lautlos fort. Betroffene wie auch das soziale Umfeld können sich oft nicht vorstellen, dass sich der charmante junge Mann, der gerade Vater geworden ist, zu einem brutalen Gewalttäter gewandelt hat, der mit voller Absicht hinter verschlossenen Türen seine Frau verletzt und missbraucht. Dabei tritt psychische und emotionale Gewalt nicht nur in Form von Wutausbrüchen, Geschrei, Abwertung und Dauerkritik auf – diese Formen sind lediglich am einfachsten zu erkennen. Auch ständige Respektlosigkeit, Unhöflichkeit, Herablassung oder Bevormundung gehören in diese Kategorie: Es geht darum, Kontrolle über die Partnerin (und die Kinder) zu erlangen und sich selbst aufzuwerten.
,Der ältere Sohn ist Legastheniker und er war ein sehr unruhiges Kind, ist ja auch kein Wunder. Mit meinem zweiten Kind musste ich dann auch zur Sprachtherapie, weil er bis zum dritten Lebensjahr nicht gesprochen hat, weil der Vater gebrüllt hat. Ich habe dann beide Kinder auch zum Schulpsychologen geschickt, damit sie lernen, mit der Alkoholkrankheit meines Mannes umzugehen. Ich wollte, dass sie nicht die schlimmen Worte von ihm nachsprechen, aber gerade das hat ihnen gefallen. Weil er hat auch die Gewohnheit gehabt, mich vor den Kindern zu beschimpfen, mich alles Mögliche zu verhoasen [nennen]. Die Kinder hat er nie angegriffen.‘
Den ganzen Bericht finden Sie ab Freitag in der Ausgabe 21 des „Südtiroler Landwirt“ vom 24. November ab Seite 21, online auf „meinSBB“ oder in der „Südtiroler Landwirt“-App.