Die Psychologin Veronika Oberbichler hat ein Buch über Betroffene sexueller Gewalt geschrieben. Es soll aufrütteln und sensibilisieren. Foto: Georg Lembergh

Wir brechen das Schweigen

Über sexuellen Missbrauch darf nicht geschwiegen werden. Im Buch „Wir brechen das Schweigen“ sprechen Betroffene erstmals über das Erlebte und über ihr Leben danach. Autorin Veronika Oberbichler erzählt im Interview über das Tabu und wie den Opfern geholfen werden kann.

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Leben

Im Herbst 2022 ist im Raetia Verlag das Buch „Wir brechen das Schweigen“ von Psychotherapeutin Veronika Oberbichler sowie Projekt-Initiator und Fotograf Georg Lembergh erschienen. Die Autorin hat dafür acht Fälle ausgesucht, die zeigen, wie sexueller Missbrauch vor allem im persönlichen Umfeld der Betroffenen, meist in der Familie, Partnerschaft, Nachbarschaft geschieht. Ihr Buch macht Mut, das Geschehene auszusprechen, und zeigt Möglichkeiten der Auseinandersetzung danach auf. Im Interview spricht die Autorin darüber, warum es wichtig ist, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen.

Südtiroler Landwirt: Über sexuellen Missbrauch wird kaum geredet. Wieso ist es im Jahr 2023 immer noch ein Tabuthema?
Veronika Oberbichler:
Ich habe gemerkt, dass die Auseinandersetzung mit sexuellem Missbrauch vielen Menschen Angst macht und äußerst unangenehm ist. Es scheint ein Thema zu sein, das manche auch heute noch als ein Schicksal weniger Einzelfälle irgendwo weit weg von der eigenen Realität abtun wollen, gerade so, als hätte es nichts mit uns zu tun. In Wahrheit ist es aber so, dass fast jede/-r von uns jemanden kennt, der oder die selbst direkt Betroffene von sexualisierter Gewalt war oder ist: Mütter, Väter, Partner/Partnerinnen, Großeltern, jemand aus dem Freundeskreis … Bei manchen liegen die Missbrauchserfahrungen viele Jahre oder Jahrzehnte zurück. Bei anderen wiederum handelt es sich um aktuelle Widerfahrnisse. Seitdem unser Buch erschienen ist, melden sich oft auch Eltern betroffener Kinder bei mir, also nahe Angehörige, die mir ihre Geschichte erzählen. Sie alle wollen anonym bleiben, jedoch ist es ihnen ein großes Anliegen, über die Vorfälle zu berichten, ihre Wut, manchmal auch ihre Hilflosigkeit loszuwerden.

Sexuellen Missbrauch gibt es auch im ländlichen Bereich. Ist dieses Thema dort noch mal schwieriger anzusprechen?
Ja, diesen Eindruck habe ich durchaus. Jeder sexuelle Missbrauch ist im Wesentlichen ein Machtmissbrauch. Täterinnen/Täter nutzen ihre Machtstellung gegen den Willen und das Einverständnis der schwächeren Person aus. Im ländlichen Bereich sind soziale Abhängigkeiten stärker ausgeprägt, das erschwert eine Offenlegung sexualisierter Gewalt ganz eindeutig. Jeder kennt jeden, das Ansehen bzw. der Verlust des Ansehens im Dorf spielen eine große Rolle. Außerdem herrscht oft noch deutliche Autoritätshörigkeit, etwa gewissen Berufsgruppen gegenüber wie Kirchenvertretern oder Menschen in höher gestellten Ämtern. Häufig sind gerade sie es, die Grenzverletzungen begehen. Zur Rechenschaft gezogen werden sie selten. Da wird lieber weggeschaut oder bagatellisiert, wenn ein Verdachtsfall im Raum steht.

Wie wichtig ist die Sprache? Reden wir von Opfern? Von Menschen, denen Schlimmes widerfahren ist? Von sexuell missbrauchten Kindern, Jugendlichen, Frauen?
Betroffene selbst möchten nicht als Opfer bezeichnet werden. Das drängt sie in eine lebenslange Schublade, die ihnen nicht gerecht wird. Im Buch haben wir den Begriff „Betroffene“ verwendet, auch „Geschädigte“ wäre korrekt. Das Ringen nach Wörtern, das Erzählen in einer angebrachten Sprache ist fast allen Betroffenen gemeinsam. Sie wollen erzählen dürfen, was ihnen widerfahren ist. Jede Geschichte ist anders, denn DEN sexuellen Missbrauch gibt es nicht. Es gibt sehr große Unterschiede: in der Art, in der Häufigkeit, in der Anbahnung der Übergriffe.

Was können wir tun?
Wir müssen viel genauer sein und uns auch das nötige Vokabular aneignen, um sexuellen Missbrauch zu verstehen und letztlich auch zu verhindern. Ein Beispiel: Viele von uns tun sich schwer, Begriffe mit Wörtern wie vaginal, anal oder oral zu unterscheiden. Hinzu kommen neuere Phänomene wie Cybergrooming oder Sexting. Sprache schafft Realität und ist letztlich eine Form der Handlungsmöglichkeit, im Falle von sexuellem Missbrauch ist Versprachlichung zugleich Widerstand (gegen die Täter) und ermöglicht für viele erst Heilung.

Es geht bei den Betroffenen auch immer um die Schuldfrage. Sie suchen bei sich selbst die Schuld. Woran liegt das?
Das liegt daran, dass Täter den Betroffenen das mitunter auch genau so vermitteln. Sie sitzen einfach am längeren Hebel, wenn ich das so salopp sagen darf. Die meisten Betroffenen erkennen, selbst wenn es sich um Kinder handelt, dass das, was man von ihnen verlangt, nicht in Ordnung ist. Zugleich sind sie außerstande zu realisieren, dass das Fehlverhalten eindeutig beim Gegenüber liegt. Bei Kindern ist es so, dass es nicht ins kindliche Denken passt, dass Erwachsene bewusst falsch handeln. Als Folge kommen Betroffene zum Schluss, dass sie irgendwas dazu beigetragen haben müssen, dass sie falsch oder anormal sind. Schuld und Scham bleiben so leider für viele lebenslange Begleiter, vor allem, wenn sie sich niemandem anvertrauen.

Was hilft den Betroffenen? Was sollte man tun, wenn man einen Missbrauch vermutet?
Handelt es sich um ein aktuelles Ereignis, das heißt, besteht der Verdacht, dass der Missbrauch aktuell stattfindet, geht es zunächst darum, für die betreffende Person Sicherheit herzustellen, also den Kontakt zum Täter möglichst zu unterbrechen. Wichtig ist auch, Rechtliches in die Wege zu leiten. Wie da genau vorzugehen ist, hängt vom konkreten Fall ab. Im Falle von Minderjährigen sollte dringend eine Meldung an das Jugendgericht gemacht werden. Die Postpolizei ist zuständig für sexualisierte Gewalt in Sozialen Netzwerken.
Was aber das Wichtigste ist: Man muss Betroffenen Glauben schenken! Zweifel oder Bagatellisierung sind nicht hilfreich. Wir müssen uns eindeutig auf die Seite Betroffener stellen. Das brauchen sie am meisten.

Ihr Buch handelt auch von Mut, das Schweigen zu brechen. Gelingt es denn?
Ja, durchaus, aber die Hürden sind nach wie vor groß. Die Bereitschaft der Gesellschaft, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen wirkt sich positiv auf Offenlegungen, Aufarbeitung und Prävention aus.

Interview: Ulrike Tonner

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